18.4 Abschließender Vergleich des französischen und des deutschen Systems
Will man es
kurz und knapp haben, sieht es so aus. Das Deutsche
will und kann die Zeitenfolge weder in der indirekten
Rede noch bei Verben der mentalen Durchdringung
ausdrücken, das Deutsche versucht, mit mäßigem
Erfolg, Distanziertheit auszudrücken. Bei
den romanischen Sprachen, also auch im Französischen,
ist die Abfolge der Ereignisse sowohl bei der
indirekten Rede wie auch bei Verben der mentalen
Durchdringung korrekt wiederzugeben. Es ist eindeutig
zu klären, ob sich ein Ereignis vor, gleichzeitig
oder nach der mentalen Durchdringung / Berichterstattung
ereignet hat. Das System der romanischen Sprachen
ist hierbei stabil, alle, die eine romanische
Sprache als Muttersprache haben, werden in einer
bestimmten Situation das gleiche, für diese
Situation passende, Muster verwenden. Eine Abweichen
von diesem Muster ist grammatikalisch falsch.
Im folgenden nun ein eher philosophischer Essay
das Deutsche betreffend. Man kann niemandem wirklich
empfehlen, diesen zu lesen. Er richtet sich ausschließlich
an diejenigen, die sich für solche Zusammenhänge
interessieren. Man kann das ohne weiteres überspringen.
Philosophischer Essay => Anfang
In Standardgrammatiken finden wir die Regel,
dass in der indirekten Rede der Konjunktiv zu
verwenden ist. Auf das dann anzuwendende Regelwerk
haben wir hingewiesen. Tatsächlich gibt
es hiermit aber zwei Probleme. Zum einen scheint überhaupt
niemand so richtig einzusehen, warum man den
Konjunktiv in der indirekten Rede überhaupt
verwenden soll. Das Ziel, über den Konjunktiv
Distanziertheit auszudrücken, wurde kaum
erreicht. Zum anderen ist das Regelwerk so kompliziert,
dass es faktisch niemand beherrscht. Das führt
dann dazu, dass auch in der indirekten Rede
zunehmend der Indikativ verwendet wird. Ein
sinnvolles Ziel wäre es gewesen, die Vorzeitigkeit
, Gleichzeitigkeit oder Nachzeitigkeit auszudrücken.
Das hätte
man, die romanischen Sprachen tun das ja, auch
mit dem Indikativ erreichen können, wenn
dieser denn widerspruchsfrei vorläge,
was er im Deutschen nicht tut. Also völlig
unabhängig
von der Frage, ob das Deutsche die Vorzeitigkeit,
Gleichzeitigkeit oder Nachzeitigkeit jemals
ausdrücken
wollte (es wollte dies wohl gar nicht), ist es
mit dem vorhandenen morphologischen Material
auch gar nicht zu leisten. Würde man
zum Beispiel sagen, dass der Konjunktiv II
die Vorzeitigkeit ausdrückt, würde
dies voraussetzen, dass er nicht lediglich
ein Substitut für
einen zweideutigen Konjunktiv I ist. Genau dies
ist aber der Fall. Der Konjunktiv II kann
auch lediglich ein Substitut für einen
zweideutigen Konjunktiv I sein. Innerhalb
desselben Systems kann aber dieselbe Form
nicht zwei Funktionen haben, der Konjunktiv
II kann nicht gleichzeitig einen zweideutigen
Konjunktiv I ersetzen und gleichzeitig Vorzeitigkeit
ausdrücken (man wüsste
dann ja nie, ob er lediglich verwendet wird,
weil der Konjunktiv I zweideutig ist, oder
ob er Vorzeitigkeit ausdrückt). Das Deutsche
hat sich also in eine Sackgasse manövriert.
Es wollte mit der Verwendung des Konjunktivs
I in der indirekten Rede Distanziertheit ausdrücken,
das ist kaum gelungen (und auch keine sinnvolle
Zielstellung) , führte aber aufgrund
des morphologischen Chaos zu einem äußerst
komplizierten Regelwerk. Das andere Ziel,
Vorzeitigkeit, Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit
auszudrücken, kann mit
dem Konjunktiv nicht realisiert werden, da innerhalb
des gleichen Systems eine bestimmte Form nur
eine einzige Funktion erfüllen kann,
aber nicht zwei Funktionen gleichzeitig. Das
eigentliche Ziel, die Distanziertheit auszudrücken,
tritt zunehmend in den Hintergrund, der Konjunktiv
wird im Sprachgebrauch zunehmend durch den
Indikativ ersetzt. Es bleibt abzuwarten, ob
sich das Deutsche in den nächsten 50
Jahren weiter entwickeln wird, das heißt
auf das System der romanischen Sprache einschwenkt,
ob es also in Zukunft heißen
wird.
vorzeitig (Plusquamperfekt): Er sagte, dass er
sich Schuhe gekauft hatte.
gleichzeitig (Imperfekt): Er sagte, dass er sich
Schuhe kaufte.
nachzeitig (Konditional): Er sagte, dass er sich
Schuhe kaufen würde.
Dieses Schema wäre mit dem vorliegenden morphologischen
Material umsetzbar und entspricht dem System der
romanischen Sprachen. Es würde in der indirekten
Rede den Indikativ verwenden und nicht mehr den
Konjunktiv. Das ohnehin nie erreichte Ziel mittels
des Konjunktivs Distanziertheit auszudrücken
würde aufgegeben, dafür wäre aber
die andere, sinnvollere Zielstellung, nämlich
die chronologische Abfolge der Ereignisse abzubilden,
realisiert.
Im Hinblick auf die Verben der mentalen Durchdringung
(denken, fürchten, glauben, wissen) kommt
es nun im Deutschen wirklich ganz dick, eine Logik
ist kaum erkennbar. Bei vielen Verben steht der
Konjunktiv II in der Vergangenheit, nicht aber
der Konjunktiv I in der Gegenwart.
Ich fürchte, dass er kommt.
nicht: Ich fürchte, dass er komme.
aber:
Ich fürchtete, dass er käme.
nicht: Ich fürchtete, dass er kam.
Es wäre eigentlich logisch, in der Gegenwart
auf das System der romanischen Sprachen einzuschwenken
und dort ebenfalls den Konjunktiv zu verwenden,
den Konjunktiv I eben.
Ich fürchte, dass er komme.
Dies ist aber nicht der Fall. Das System der romanischen
Sprachen ist schlüssiger, manche Verben ziehen
den subjonctif nach sich, den subjonctif présent
in der Gegenwart, den subjonctif imparfait in
der Vergangenheit. Das ist ein in sich schlüssiges
System. Im Deutschen haben wir ein völlig
chaotisches System.
Ich wußte, dass er kommt.
aber: Ich glaubte, dass er käme.
Man findet in vielen Grammatiken die Behauptung,
dass der Konjunktiv II durch die Irrealität
motiviert sei. Das ist nonsense.
a) Ich glaubte, dass er käme und tatsächlich
kam er dann auch.
b) Ich glaubte, dass er käme, aber er kam
nicht.
Bei a) hat sich das Ereignis realisiert, bei
b) nicht, aber beide Male ist der Konjunktiv
II zwingend. Auch hier ist das System der romanischen
Sprachen weit schlüssiger. Streiten kann
man sich darüber, welches Verb den nun
den subjonctif verlangt und welches nicht, hier
gibt es auch Unterschiede innerhalb der romanischen
Sprachen. Verlangt aber ein Verb den subjonctif,
dann haben wir es mit einem stabilen Regelwerk
zu tun. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier das
Deutsche in den nächsten 50 Jahren auf
das romanische System einschwenkt ist allerdings
geringer, da das System in seiner Absurdität
doch noch relativ stabil ist.
Aus systematischer Sicht stimmiger wäre dies,
was dem System der romanischen Sprachen entspricht.
Ich fürchte, dass er komme.
anstatt: Ich fürchte, dass er kommt.
Sätze wie Ich fürchte, dass er kommt
sind aber stabil, hier wird wohl niemals der Konjunktiv
I einrücken, auch wenn das systematisch gesehen
schlüssiger wäre. Nur in der Vergangenheit,
wird dem System der romanischen Sprachen gefolgt.
Ich fürchtete, dass er käme.
nicht: Ich fürchtete, dass er kam.
Die romanischen Sprachen sind aufgrund ihrer klareren
und eindeutigeren Morphologie auch mit dem Konjunktiv
in der Lage, die chronologische Abfolge der Ereignisse
auszudrücken, das Deutsche kann das nicht,
bzw. die Vorstellung ist nicht wirklich überzeugend.
vorzeitig: Ich fürchtete, dass er gekommen
sei.
gleichzeitig: Ich fürchtete, dass er käme.
nachzeitig: Ich fürchtete, dass er kommen
würde.
Die Vorzeitigkeit beim Konjunktiv wird in keiner
Standardgrammatik des Deutschen erwähnt,
wer will und mit ein bisschen Autosuggestion
kann aber die Vorzeitigkeit durch den Konjunktiv
I der Vergangenheit ausgedrückt sehen.
Ein ähnliches
stringentes System wie die romanischen Sprachen,
ein System also, dass in jeder Situation Vorzeitigkeit
/ Gleichzeitigkeit / Nachzeitigkeit auszudrücken
vermag, könnte aber das Deutsche selbst
dann nicht entwickeln, wenn man es per Gesetz
verordnen würde, weil das morphologische
Material aus den oben erwähnten Gründen
zu schwach ist.